❗ Inhaltshinweis ❗
Krieg und Kriegsverletzung, Nachkriegstrauma, ungewollte Schwangerschaft, Krankheit, Armut, psychische Gewalt
Ich heiße Susanne, bin Jahrgang 1958 und habe mich mit 20 Jahren sterilisieren lassen. So lange ich denken kann, war mir klar, dass ich niemals heiraten und niemals Kinder bekommen wollte. Es ist wirklich so, dass ich in meinem ganzen Leben mir keinen einzigen Moment ein Kind gewünscht habe. Ich möchte gerne erzählen, wie es dazu gekommen ist.
Ich gehöre zur sog. Boomer-Generation, d. h. es gab noch keine Pille und deshalb sind diese Jahrgänge so zahlreich. Die Frauen hatten kaum eine Möglichkeit, zuverlässig zu verhüten. So gab es viele Kinder, die eigentlich unerwünscht waren. Dass mein Bruder und ich dazu gehörten, war eines der bestgehüteten Geheimnisse meiner Mutter und ich habe es erst mit über 50 Jahren herausgefunden.
Mein Vater war Jahrgang 1919 und wurde als junger Kerl in den 2. Weltkrieg nach Russland geschickt. Von dort kam er traumatisiert als Spätheimkehrer aus Kriegsgefangenschaft zurück, lernte meine Mutter kennen und die beiden heirateten 1952. Ein Jahr später kam mein Bruder zur Welt und fünf Jahre nach meinem Bruder dann ich.
Es stellte sich heraus, dass mit meinem Vater gesundheitlich etwas nicht stimmte. Er bekam Anfälle, die von wandernden Granatsplitter in seinem Hirn herrührten. Aufgrund dessen konnte er im Beruf nicht die geforderte Arbeitsleistung erbringen, war den Belastungen nicht gewachsen und wurde mit den Aufgaben nicht fertig. In der Folge wurde er Stück für Stück von seiner Position als Meister zum Hilfsarbeiter herabgestuft. Für einen patriarchalisch-autoritär eingestellten Mann wie meinen Vater war das eine kaum zu ertragende psychische Belastung, die sich in der Familie entlud. Es dauerte ganze achtzehn(!) Jahre, bis er seine Anerkennung als 100 % Schwerkriegsverletzter bekam. In dieser Zeit ging es uns als Familie finanziell katastrophal, zumal es am Anfang noch kein Kindergeld gab.
Meine Mutter war 29 Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Liebend gerne wäre sie berufstätig gewesen. Gesundheitswesen und Finanzwesen waren ihre großen Interessen. Durch den 2. Weltkrieg und die Nachkriegszeit war mit der mittleren Reife Schluss und anvisierte Ausbildungen konnten nicht realisiert werden. Durch die Heirat mit meinem Vater hatte sie nun plötzlich einen kranken Mann, den sie „bei Laune halten“, und zwei Kinder, die sie irgendwie durchbringen musste. Dass wir arm waren, war ebenfalls ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Natürlich wurde ich jeden Tag in der Schule damit konfrontiert, dass ich das Kind mit dem wenigsten Geld im Rücken war, aber ich durfte es zuhause nicht aussprechen. Die Armut war umso drastischer zu spüren, da es den anderen Familien in dieser Zeit des Wirtschaftswunders von Jahr zu Jahr besser ging, nur uns ging es von Jahr zu Jahr schlechter. Jeder Tag war überschrieben mit „kein Geld“.
Dieser enorme Druck zeigte sich innerhalb der Familie in Gewalt. Als ich klein war auch körperliche Gewalt, später nur noch psychische Gewalt. Psychische Gewalt sieht man nicht, sie passiert hinter verschlossenen Türen und man glaubt sie sich selbst nicht. Um zu überleben, habe ich damals mein Ich aufgegeben. Ich erinnere mich gut daran, dass ich mit 16 Jahren mit mir selbst aushandelte, irgendwie noch bis zum Abitur durchzustehen, koste es, was es wolle. Ich wollte dieses Abitur unbedingt, wollte nie in so einer Familiensituation enden, aus der ich kam. Mit meinem Abitur in der Tasche habe ich damals am nächsten Tag mein Elternhaus verlassen.
Als ich 18 und damit volljährig wurde, war ich der Ansicht, dass ich über meinen eigenen Körper bestimmen könnte und habe versucht, mich sterilisieren zu lassen. Ich war an verschiedenen Adressen und überall wurde mir auf herablassende Art erklärt, dass eine Sterilisation – wenn überhaupt – dann bei Frauen durchgeführt würde, die verheiratet wären und mindestens zwei Kinder hätten. Ich wurde nicht ernst genommen und teilweise gedemütigt. Es gab damals überhaupt niemanden, der freundlich und verständnisvoll mit mir gesprochen hätte.
Nach dem Abitur wechselte ich zum Studium in eine andere Stadt. Mit 20 kam ich schließlich an die Adresse einer kleinen Klinik in den Niederlanden, die Sterilisationen durchführte. Ich nahm Kontakt auf und überzeugte mich von der Seriosität und dem medizinischen Standard. Dort wurde mir zum ersten Mal freundlich begegnet. Es gab ein Gespräch, in dem ich zu meinen Beweggründen gefragt und über den Eingriff aufgeklärt wurde. Direkt vor dem Eingriff fingen die Tränen an, mir über die Wangen zu laufen und mir wurde angeboten, abzubrechen. Aber ich wollte nicht abbrechen, ich war mir mit der Sterilisation sicher.
In der Folgezeit fühlte ich mich befreit. Endlich musste ich keine Angst mehr haben, schwanger werden zu können. Eine große Last war von mir abgefallen.
Trotz meiner ganz eindeutigen Entscheidung, die für mich die richtige war, würde ich Frauen in diesem frühen Alter nur sehr bedingt zur Sterilisation raten. Ich hatte mit 20 keine Vorstellung davon, wie lange das Leben ist und wie sehr es sich ändern kann.
Natürlich wurde auch ich immer wieder gefragt, was wäre, wenn ich plötzlich doch einen Kinderwunsch hätte. Ich möchte die umgekehrte Frage stellen: Was ist mit einer Frau, die sich für ein Kind entscheidet und dann feststellt, dass es doch die falsche Entscheidung war? Sie hätte nicht nur sich, sondern vor allem das Kind unglücklich gemacht, das nichts dafür könnte. Wenn ich durch meine Sterilisation die falsche Entscheidung getroffen hätte, dann hätte ich nur mich unglücklich gemacht und müsste eben damit leben. Abgesehen davon gibt es genug Möglichkeiten, sich zu engagieren, wenn man Kinder liebt und gerne mit ihnen zusammen ist.
Es gibt eine Reihe von Motiven, aus denen Frauen Kinder kriegen: um nicht arbeiten gehen zu müssen, um den Partner zu halten, aus finanziellen Gründen, um sich selbst zu „verwirklichen“, um im Alter nicht alleine zu sein, damit die Kinder die Ziele erreichen, die man selbst verpasst hat usw. Das alles ist meiner Meinung nach Missbrauch. Warum stellt niemand die Frage, warum jemand ein Kind will? Warum muss ich mir als Kinderlose die Frage gefallen lassen, warum ich keine(!) Kinder möchte?
Manchmal kommen Menschen auch mit der Frage, wer unsere Rente bezahlen soll, wenn niemand mehr Kinder bekommt. Ich möchte den Bogen weiter spannen: Auf der Erde leben acht Milliarden Menschen, davon hungert eine Milliarde. Jeder Mensch, der auf der Welt existiert, trägt zur Umweltbelastung und zur Klimakatastrophe bei, auch wenn er versucht, seinen Fußabdruck so klein wie möglich zu halten. Wir Menschen haben es fast geschafft, die Welt zu zerstören und das fliegt uns gerade um die Ohren. Hauptsächlich in den weniger privilegierten Gegenden dieser Erde und bei den weniger privilegierten Menschen. Je weniger es von uns gibt, desto besser. Besser für die Umwelt, die Menschen und unsere Mitgeschöpfe.